zur Erinnerung
Ein Leuchtturm made in DDR Dresden hat sich zum Zentrum der Chipindustrie entwickelt - und das nicht erst nach der Wende.
Die Vorgeschichte erstaunte selbst die Amerikaner.

Von Stephan Finsterbusch

Wie haben die das bloß gemacht? Als die Mauer gefallen, die Grenze offen und Deutschland gerade dabei war, Ost und West zu vereinen, gingen die Amerikaner auf Spurensuche. Sie wollten wissen, wie es der DDR 1988 gelungen war, den ersten 1-Megabit-Speicherchip des Ostblocks zu bauen. Zwar galt ein solcher Chip im Westen da schon nicht mehr als ganz so neu, für den Osten aber war er ein technisches Meisterwerk im Miniformat. Hatte die DDR kurz vor ihrem Ende den großen Sprung ins digitale Zeitalter geschafft?

Dort, wo der 1-Megabit-Chip einst entwickelt worden war, ist heute Europas größter Halbleiterstandort: in Dresden. Hier werden jedes Jahr Milliarden Speicher- und Rechenbausteine gefertigt; hier sind Hunderte Branchenunternehmen mit 20 000 Beschäftigten tätig; hier gibt es ein Netz an Instituten und Hochschulen; hier stehen die Chipfabriken von ZMD, Infineon und Globalfoundries, hier zieht Bosch gerade ein neues Werk hoch. Das lässt sich der Stuttgarter Konzern eine Milliarde Euro kosten, die größte Einzelinvestition in der Geschichte des Unternehmens. Die Fabrik wird so groß wie ein Fußballstadion und eines der modernsten Werke der Welt sein.

Kommendes Jahr laufe die Produktion an, sagt Otto Graf, Geschäftsführer von Bosch Semiconductor Manufacturing Dresden. Dann werden 700 Mitarbeiter nicht nur sogenannte Asic-Chips und Leistungshalbleiter für Steuerungs-, Lenk- und Navigationssysteme von Autos herstellen, sondern auch Sensoren für die Ausstattung der Fabriken der Zukunft. Denn kein Gerät und keine Maschine werden dann noch ohne Chips auskommen. Für Jens Drews von Globalfoundries (GF) erlebt die Wirtschaft "eine neue industrielle Revolution". Das erste Dresdner Werk von Globalfoufndries ging schon vor zwanzig Jahren an den Start. Seitdem wurde es mit Milliarden modernisiert und erweitert. Während Bosch seine Chips ausschließlich in eigenen Produkten wie Fahrzeugmotoren verbaut, fertigte GF seine Prozessoren erst für Computer- und dann für Handyhersteller. Heute zählen auch Autoindustrie und Netzwerkausrüster zu den Kunden.

Der neue Mobilfunkstandard "5G braucht eine neue Infrastruktur, und auch dafür machen wir Chips", sagt Drews. Darüber hinaus hat Globalfoundries gerade einen KI-Chip vorgestellt, der ähnlich wie ein Gehirn arbeitet, je Sekunde Billionen Rechenoperationen ausführt und am belgischen Imec-Institut entwickelt wurde. GF will ihn von 2022 an in seinem Dresdner Werk in Serie fertigen. Ein Rechenwinzling für die Zukunft: Trieben einst Wasser und Dampf die Industrie an, dreht sich heute alles um Daten. Chips sind da entscheidend.

Das macht Dresden zu einem "Leuchtturm", wie Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem letzten großen Auftritt in der Stadt sagte. Ein Leuchtturm für Europa, das in technischen Entwicklungen hinter Amerika und Asien "an vielen Stellen zurückgefallen" sei und rasch aufholen müsse. Dresden kennt sich mit solchen Aufholjagden aus. War der 1-Megabit Chip für die DDR doch das, was für die deutsche Wirtschaft heute 5G- und KI Chips sind: Wegbereiter neuer Industrien.

An höchster Stelle: Die Erfinder stellen Erich Honecker den Megabit-Chip vor (1988).

Schon in den sechziger Jahren hatte die SED die Mikroelektronik zur Schlüsseltechnologie erhoben. 1977 beschloss sie den Ausbau der Branche, zunächst durch das Kopieren westlicher Vorbilder. 1986 startete sie Projekt "Mikron", den Megabit-Chip. Das Zentrum für Mikroelektronik Dresden (ZMD) und der VEB Carl Zeiss Jena sollten ihn aus eigener Kraft entwickeln. Im Westen hielt man das für aussichtslos. Im Osten aber hatte Staats-und Parteichef Honecker im September 1988 den Muster-Chip in Händen, vor laufenden Kameras. Amerika war alarmiert.

Hatte Washington doch bis dahin niemandem im Ostblock zugetraut, diesen Chip zu bauen. Zwar kam IBM 1984 mit einem 1-Megabit-Chip auf den Markt. Zwar arbeiteten Toshiba und Siemens an 4-Megabit-Chips. Doch die wurden nicht hinter dem Eisernen Vorhang geliefert. Auch hinkte die DDR der Entwicklung im Westen um Jahre hinterher. Dennoch machte sie mit dem Chip einen großen Schritt nach vorn. Das überraschte die Amerikaner, hatten sie bis dahin doch geglaubt, über ihre Wirtschaftsspionage die HighTech im Osten gut zu kennen: vom ersten Transistor 1953 bis zum U880-Prozessor 1980. Bei Projekt "Mikron" aber tappten sie im Dunkeln. Sie kannten das Ziel, nicht die Details. Sie hatten die Ingenieure, Betriebe und selbst die Stasi im Blick. Das Scientific and Technical Intelligence Com mittee räumte 1985 jedoch ein: "Kein Geheimdienst des Ostblocks ist im illegalen Technologietransfer aus dem Westen so gut wie der ostdeutsche."

Darüber hinaus machte Ost-Berlin sein Chip-Programm zum Staatsgeheimnis, da dafür Materialien und Anlagen nötig waren, die es im Osten nicht gab und die der Westen durch seine Embargo-Politik nicht liefern durfte: Vakuummolekülpumpen, Titansilizid, Siliziumchloroform. Dennoch entwickelte man in Dresden den Chip. Das warf Fragen auf: Hatte die Stasi den Westen angezapft? Und hatte der Osten vielleicht neben dem Chip gar noch die gesamte Zulieferindustrie aus den Boden gestampft?

Es sei schon kurios, dass Europas größter Halbleiterstandort heute just dort stehe, wo der Osten einst im Wettrennen mit dem Westen Boden gutmachen wollte, sagt Drews. Es sei kein Zufall, dass die neue Fabrik von Bosch in Dresden gebaut wird, unterstreicht Graf. Man finde hier Fachkräfte und ein enges Netz aus Wissenschaft und Wirtschaft: "Hier hat man jahrzehntelange Erfahrung." Kein Wunder: ZMD hatte die Wende überlebt und noch einige seiner Megabit-Chips produziert. Siemens-Ingenieure hielten sie für technisch gut. So erklärte der Konzern 1993, die Ressourcen in Dresden zu nutzen und hier eine Fabrik zu bauen. Später gründete Siemens seine Chipsparte als Infineon aus. Heute ist sie ein tragender Pfeiler für Dresden. Raik Brettschneider, Infineon Geschäftsführer in Sachsen, will weiter investieren. Der Standort habe Potential.

Das stellten auch die Amerikaner fest, als sie nach dem Mauerfall wissen wollten, wie die DDR zu ihrem Megabit-Chip gekommen war. Rasch wurde klar, dass die Ingenieure trotz Mangelwirtschaft eine geschlossene Wertschöpfungskette für die Chipfertigung geknüpft hatten. Was nicht vorhanden war, wurde ausgetüftelt; was nicht auszutüfteln war, wurde über geheime Kanäle im Westen beschafft. So hat der 1-Megabit-Chip die DDR zwar nicht gerettet, dem Standort Dresden aber einen Weg in die Zukunft gewiesen.


Quelle: FAZ vom 02.10.2020 Seite B3


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 22.01.2023 - 11:08